"Fastenfest" mit Franz Müntefering in der Alsterhalle 

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Franz Müntefering zeigte sich bürgernah. Er überraschte die Sänger 
vom Gemischten Chor Concordia indem er spontan ein Lied mitsang.

Franz Müntefering zum Abschluss als Sangesbruder inmitten des Bühner Gesangvereins - Masche eines auf Publikumswirksamkeit getrimmten Politikers oder die spontane Geste eines Gastes, der sich in Bühne wohl gefühlt hatte? Bei Gerhard Schröder in der gleichen Situation wäre man sich sicher gewesen, dass er keine Möglichkeit der einen Vorteil versprechenden Selbstdarstellung ausgelassen hätte. Der in Bühne gastierende Sauerländer wirkte da schon glaubwürdiger. Der deutsche Vizekanzler und Bundesarbeitsminister zu Gast in Bühne? Was man zuerst für einen verfrühten Aprilscherz gehalten hatte, wurde Wirklichkeit. Franz Müntefering erschien leibhaftig und war der Hauptdarsteller des Bühner Fastenfestes. Eigentlich sollte er ja auf Einladung des SPD-Stadtverbandes in Borgentreich auftreten. Dort war aber die Halle besetzt. Die Bühner ergriffen diese Chance und freuten sich über diesen ungewöhnlichen Besuch. Jutta Kropp und Jürgen Dierkes merkte man bei der Begrüßung nichts von der bestimmt vorhandenen Nervosität an. Locker und souverän eröffneten sie den Festakt. Nach dem Fassbieranstich gab es einige Grußworte. Der SPD Landtagsabgeordnete Jürgen Unruhe benutzte die Gelegenheit, um den politischen Gegner zu attackieren. Der Borgentreicher CDU-Bürgermeister Bernhard Temme ließ sich davon aber nicht provozieren. Ganz im Gegenteil. Er erinnerte Müntefering an eine Begegnung in Düsseldorf, als beide vor einigen Jahren noch in ganz anderer Funktion schon einmal mit Erfolg zusammen gearbeitet hatten. Herzstück des Nachmittags aber war die knapp einstündige Rede Münteferings. Er sprach frei, ohne Manuskript und hatte sich wohl nur einige Stichpunkte notiert. Erstaunlich für einen Mittsechziger, so viele Daten und Fakten im Kopf zu haben. Doch der tägliche Umgang mit diesem Zahlenmaterial schult anscheinend im Kampf gegen die grauen Zellen. Anfangs ging er auf seine Schwierigkeit mit dem Begriff "Fastenfest" ein: "Das habe ich so noch nie gehört." Darin stimmte er wohl mit dem überwiegenden Teil des Publikums überein. Nach einer kurzen Darstellung seiner bisherigen Kontakte zu unserer Heimat (Messdienerausflug nach Warburg und ein halbes Jahr Bundeswehr in Höxter) wurde es dann ernst mit seiner politischen Botschaft. Er kritisierte die neunziger Jahre, in denen nach der deutschen Einheit die notwendigen Reformen verschlafen worden seien. 

Jutta Kropp und Jürgen Dierkes bei der Begrüßung

Hier weitere inhaltliche Schwerpunkte seiner Rede: Die deutsche Einheit wurde durch die Sicherungssysteme finanziert und die deutschen Arbeitnehmer haben das bezahlt. Die von keinem gewollte große Koalition des Jahres 2005 müssen wir so annehmen und gemeinsam mit dem politischen Gegner zum Wohle Deutschlands handeln. Die großen Herausforderungen unserer Zeit heißen Globalisierung und demografischer Wandel. Man kann nicht für oder gegen die Globalisierung sein, sie ist einfach da. Wir sind ein großes Dorf und bräuchten eine Weltregierung. Die gibt es aber nicht, also brauchen wir Regeln, wie wir in einer solchen Welt bestehen können. Meine Heuschreckendebatte ist bekannt, es gibt Leute, die mit ganz viel Geld noch mehr Geld machen wollen. Sie nehmen keine Rücksicht, ob das Arbeitsplätze kostet oder nicht. Ich will eine sozial gestaltete Globalisierung. Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt. Geld darf die Welt nicht regieren und ist kein Selbstzweck. Das erwirtschaftete Geld muss den Menschen zugute kommen und ist nicht der blanken Spekulation zur Verfügung zu stellen. Unsere Wirtschaft muss wettbewerbsfähig gegenüber anderen Unternehmen in der Welt sein. Die Gewinne, die in Deutschland gemacht werden, müssen aber auch in Deutschland versteuert werden.

Das Wasser steigt, die Pole schmelzen. Alle so genannten Jahrhundertkatastrophen haben in den letzten 6 Jahren stattgefunden. Die alternativen Energien sind eine große Chance. Es nützt nichts, wenn nur wir diese anwenden, und in anderen Ländern gibt es Kraftwerke als Dreckschleudern. Wir sind aufgefordert, hier unser Wissen zu vermitteln und unsere Erfahrungen zu transportieren. Dabei wäre ich froh, den Menschen zeigen zu können, wie man Energie haben kann, ohne unseren Planeten zu beschädigen. Atomenergie kann nicht die Lösung sein. Ein gestartetes Flugzeug ohne Landebahn ist zu gefährlich. Ich möchte mich nicht an der aktuellen Diskussion über Autos beteiligen. In den Gebäuden wird viel mehr Energie verbraucht. Dabei setze ich mich dafür ein, dass in den nächsten 5 bis 7 Jahren alle öffentlichen Gebäude energetisch saniert werden. In Kindergärten, Schulen, Rathäusern und öffentlichen Hallen sollte dieses Programm durchgeführt werden. Das amortisiert sich in den darauf folgenden Jahren, das gibt Arbeitsplätze für die Handwerker vor Ort und ist umweltpolitisch vernünftig.

Franz Müntefering bei seiner Rede in Bühne.

Wir gehen mit durchschnittlich 21 Jahren in den Beruf und mit 60,5 Jahren in Rente. Im Jahr 1960 zahlten wir im Schnitt für 10 Jahre Rente, heute aber für 17 Jahre und im Jahr 2025 für etwa 20 Jahre. Damals kamen auf einen Rentner 8 Beschäftigte, heute nur noch 3,5. In den Jahren 2030 - 2040 kommen nur noch 1,9 Beschäftigte auf einen Rentner. Wir leben länger und haben weniger Kinder, daher verschiebt sich der Lebensbaum völlig in diesem Land. Im Jahr 2050 haben wir 12% der Menschen, die über 80 Jahre sind, 30% sind älter als 65 und 18%, die jünger als 20 Jahre alt sind. Diese Gesellschaft muss begreifen, dass Leute um die sechzig noch nicht zum alten Eisen gehören, sondern Erfahrung, Teamfähigkeit sowie die Gelassenheit haben und deshalb gebraucht werden. Jüngere Leute aber müssen besser qualifiziert werden, um in den Arbeitsprozess zu kommen. Wir haben zurzeit 4,2 Millionen Arbeitslose, aber es fehlen uns 22 000 Ingenieure. Im Kreis Höxter haben wir im Moment 1493 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr, in ganz Deutschland sind es insgesamt 825 000. Ohne diese depressive Grundstimmung in Deutschland könnte man das aber als Erfolg verbuchen.

Heute wissen wir, dass Frauen bessere Studienergebnisse als Männer erzielen. Trotzdem haben sie größere Schwierigkeiten, in Spitzenpositionen aufzusteigen. Frauen sollten selbst entscheiden können, ob sie Familie und Beruf möchten. Es sollten aber in jedem Fall genügend Betreuungsplätze für ihre Kinder zur Verfügung stehen, um beides miteinander vereinbaren zu können. Kinder, die in die Schule kommen, sollten deutsch sprechen können. Deshalb brauchen wir schon im Kindergarten Sprachqualifizierungsmaßnahmen. Kinder brauchen Orientierung. Wenn sie als Mittel zur Konfliktlösung nur Gewalt im Fernsehen erlebt haben, dann ist das ungesund. Ich möchte nicht das Fernsehen verteufeln, aber ich hatte erst mit 15 Jahren mein erstes Fernseherlebnis. Penny Islackers Tor für Rot-Weiß Essen im Spiel um die deutsche Meisterschaft gegen den 1.FC Kaiserslauten ist für mich noch heute unvergessen. Die Menschen brauchen Mut, um sich den gesellschaftlichen Veränderungen zu stellen. Dazu benötigen sie eine soziale Partnerschaft, die zivile Gesellschaft, Solidarität, das Ehrenamt und auch politisches Engagement. Wir haben in Deutschland zu viele Leute, die nur auf der Tribüne sitzen und von dort die Tätigkeiten der Aktivisten kritisieren. Franz Müntefering endete mit einem Spruch seines alten Weggefährten Karl Richter, der mit 102 Jahren gestorben ist: "Du musst das Leben nehmen wie es ist, aber du darfst es nicht so lassen."

Frank Baumann in seiner Rolle als Bürgermeister von Borgentreich

Auch das Rahmenprogramm konnte sich sehen lassen. Sowohl der Musik- als auch der Gesangverein erwiesen sich wieder einmal als musikalisches Aushängeschild mit Niveau. Um den Kabarettisten Frank Baumann hatte man anfangs ein wenig Angst. Schließlich musste er sehr lange warten und war erst nach der Müntefering-Rede an der Reihe. Schon nach wenigen Augenblicken war aber klar, dass diese Angst unbegründet war. Er ging zur Freude der Zuschauer noch einmal auf die Probleme ein, die ein SPD-Sympathisant in unserer Heimat so haben kann. Nur zu schade, dass sein Hauptakteur "Münte" schon weg war. Abschließend kann gesagt werden, dass es für Bühne schon ein besonderes Ereignis war. Es war zwar eine Parteiveranstaltung der SPD, aber vielleicht erzählt der Gast seiner Chefin von seinem Besuch hier. Dann können sich unter Umständen schon jetzt alle auf einen Auftritt der Bundeskanzlerin im nächsten Jahr freuen.